Samstag, 25. November 2006

Filmbesprechung

Väter tun so etwas nicht
Internationaler Wettbewerb: „Söhne“ von Erik Richter Strand, Norwegen


Ein Bademeister, allseits als hilfsbereit und zupackend bekannt, beobachtet einen mutmaßlichen Kinderschänder, der sich mit halbwüchsigen Jungs abgibt, und kann ihn per Digicam tatsächlich dingfest machen. Alles scheint klar, handfeste Beweise liegen in Lars’ Hand.

Aber nichts ist in dem Film so, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Der Zuschauer sieht auf einmal Lars dem Opfer Tim das Sweatshirt über den Kopf ziehen und ihm ein Geldbündel in die Hand drücken wie zuvor der Päderast. Als Tim nach einer Party mit Freunden wegen seines heillosen Katers nicht nach Hause will, bietet Lars ihm sogar über Nacht Unterschlupf. Nun ist Lars’ Bett besetzt, dafür lädt ihn die nette Nachbarin zu sich ein. Aber warum liegt Lars angezogen und wie ein Stock neben ihr?

Was wie eine beklemmende Psychostudie beginnt und zu einem verwirrenden Vexierspiel mutiert, entwickelt sich im letzten Drittel zu einem rasanten Krimi. Der Zuschauer kann Täter und Opfer immer schwerer unterscheiden, die Helfer sind auf der Flucht vor der Polizei. Trotz des offenen Endes wird eine mögliche Lösung angedeutet: Wer von außerhalb urteilt, liegt vielleicht daneben. Nur Betroffene selber können ihre Sache in die Hand nehmen. Gute Darsteller und Regie, überzeugende Kamera, außergewöhnliches Drehbuch. Ein Spielfilm, der zum Thema Missbrauch von Minderjährigen Wichtiges zu sagen versteht.

Festakt

Ein Kinderbuchautor, der einen

Buchpreis erhält und beim Festakt während der Laudatio des Kollegen in Tränen ausbricht. Er kann seine Dankesrede nicht selber halten, sie muss verlesen werden. Der Vorfall macht Furore, doch Jahre später ist er in Vergessenheit geraten. In seinem Nachlass finden sich in seinen Tagebuchnotizen Gedanken zum Hintergrund:

Er habe während der Feier an seine Mutter denken müssen, der er es als Kind nie habe recht machen können. Als er erwachsen wurde, habe sie seine literarischen Bemühungen immer belächelt oder mit missgünstiger Kritik begleitet. Oder schlimmer noch: mit Schweigen, was ihn sehr verletzte. – „Was ist ein Kinderbuch anderes, als der Versuch eines Erwachsenen, sich mit der Welt der Kinder zu verständigen?“, schreibt er. Es sei ihm bei Besuchen im Elternhaus oft vorgekommen wie im dichten Straßenverkehr. Sie, die unaufhörlich redete und so ganz von sich überzeugt war. Die ihn als Kind nie Kind sein gelassen hatte, weil es nur darum gegangen war, „brav“ zu sein, und ihn als Erwachsenen zu behandeln suchte wie ein Kind. Ihr selbstgefälliger Redeschwall wirkte auf ihn wie eine Droge, die einen in Absence versetzt, ähnlich wie es übergroßer Lärm einer Straße machen kann: Man sieht dann zwar noch die Autos, Lastwagen, Motorräder, hört aber ihre Geräusche gedämpft wie durch Watte hindurch.

„Heute“, so war in seinem Tagebuch zu lesen“, „hörte ich die Stimme des Kollegenfreundes im stillen Saal mit den festlich gekleideten Gästen urplötzlich überlaut. Was ist das, dachte ich und griff mir ans Ohr.“ Dann habe es ihm gedämmert. Dies war der umgekehrte Vorgang wie beim Verkehrslärm: Was mit leisen Tönen daherkommt, erreicht dein Inneres lauter. Und gleichzeitig keimte die Hoffnung, die Chance bestünde, dass er eine Schallmauer durchbrochen hatte. Seine Mutter, die sich nie in ihn habe hineinversetzen können, sei als Kind für ihn ein Schicksal gewesen; kein Kind entkommt dem seinen. Als Erwachsener war es für ihn ein Trauma, weil es neben dem Schmerz der Erinnerung immer wieder vor Augen führte, dass auch jetzt an eine Verständigung nicht zu denken war.

Die Situation der Ehrung habe ihm vergegenwärtigt, dass es dennoch eine Chance gab. Wenn so viele kluge Menschen denken, dass seine Bücher Kinderherzen erreicht hätten, dann wäre das bei einigen vielleicht wirklich der Fall. Und das würde bedeuten, dass die Mauer zwischen den Generationen durchlässig geworden war. Ein Bann war gebrochen, gegen den er jahrelang wie in Trance angeschrieben hatte, blind, wie im Gischt einer Brandung, ohne zu wissen, ob er vorankam.

„Dieser Moment im Festsaal war für mich wie der erste Sonnenstrahl nach einem vorübergezogenen Tornado, während überall umher noch Trümmer liegen. Ich wusste, ich war nochmal davongekommen.“

Filmbesprechung

Trauma oder Traum?
Internationaler Wettbewerb: Eine merkwürdige Gesellschaft


Joel ist Psychotherapeut und betreut eine kleine Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Störungen. Der Helfer, nicht frei vom Helfersyndrom, leidet jedoch selber unter Schlaflosigkeit: Weil seine Frau ihn mit einer anderen in flagranti erwischte, hat sie ihn Hals über Kopf verlassen. Nun sitzt er nachts im Wohnzimmer und bestraft sich selbst, indem er wieder und wieder die letzte Nachricht vom Anrufbeantworter abhört, die sie ihm hinterließ. So lange, bis seine neunjährige Tochter aus ihrem Zimmer kommt und fragt: „Ist Mama da? Ich habe ihre Stimme gehört.“

Seine persönliche Schieflage spitzt sich zu, als seine Patienten ihn immer mehr ins Privatleben hinein verfolgen. Sophie droht sich das Leben zu nehmen, benachrichtigt ihn zuvor aber telefonisch genau in dem Moment, als er mit seinem Kind eine kritische Situation durchlebt und eigentlich zuhause gebraucht wird. Der cholerische Victor dagegen meint schließlich seinen Verfolger ausfindig gemacht zu haben und setzt dem das Messer an die Kehle. Wahrheit und Lüge werden zum immer bedrängenderen Thema.

Der Film hätte nicht einen Psychiater zum Protagonisten, wenn der Showdown sich dies nicht zunutze machte. Ein schwerer Unfall spielt eine Rolle, beste Voraussetzung für posttraumatischen Stress. Aus rätselhaftem Grund scheinen die drei Patienten unversehens gemeinsame Sache gegen ihren Therapeuten zu machen und stehen wie in einem Alptraum drohend vor Joels Bett. Joel wird die Pistole auf die Brust gesetzt.

Seelenkino mit dem Hang zur Verselbständigung. Reife Leistung!

Filmbesprechung

Vorhang zu, alle Fragen offen
Internationaler Wettbewerb: Blut ist dicker als Wasser


Pétur ist kein Mann großer Worte. Eher ergreift er die Initiative und schenkt seiner Frau Asta und sich eine Reise in die Dominikanische Republik, bevor das zweite Kind ankommt. Eine glückliche Familie – in die durch einen Zufall das Misstrauen einbricht wie ein Tornado, bei dem der Ton abgestellt ist.

Ein routinemäßiger Bluttest beim zehnjährigen Sohn ergibt, dass Örn nicht Péturs Sohn sein kann. Urplötzlich treten misstrauische Blicke an die Stelle des Miteinanderredens. Das Tischtuch ist zerschnitten, der Vater zieht ins Hotel. Bemerkenswert, wie Árni Ólafur Ásgeirsson ein Kino des Schweigens und der distanzierten Augenkontakte inszeniert. Asta erklärt sich nicht und schwankt zwischen Verzweiflungsausbrüchen und Scheidungsdrohung mit Versorgungsanspruch. Pétur stürzt sich in eine hoffnungslose Liebesaffaire, die nur weitere Tränen gebiert. Schwester Lilja verfällt in offensichtlich alte familiäre Verhaltensmuster.

Der einzige, mit dem Pétur noch reden kann, ist sein Schwager in spe. Doch sind diese Unterhaltungen mehr der Abklatsch einer Männerfreundschaft und gefährden die Beziehung des Schwagers zu Lilja. Als schließlich doch Hochzeit gefeiert wird, scheint auch Bewegung in die Front zwischen Pétur und Asta zu kommen. Er übernachtet wieder zuhause, die Blicke werden zugänglicher.

Doch ist der Keim des Schweigens gepflanzt. Fast käme es zu einer normalen Unterhaltung zwischen Vater und Sohn. Aber Örn stockt und seine einzige Reaktion lautet: „Ach, nichts“. Keine Frage ist beantwortet; es wird nie mehr sein, wie es mal war. Schwer verdaulicher Film, hochverdichtetes Kino und große Kunst, selbst der Darsteller des kleinen Örn spielt beängstigend intensiv.

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