Samstag, 25. November 2006

Festakt

Ein Kinderbuchautor, der einen

Buchpreis erhält und beim Festakt während der Laudatio des Kollegen in Tränen ausbricht. Er kann seine Dankesrede nicht selber halten, sie muss verlesen werden. Der Vorfall macht Furore, doch Jahre später ist er in Vergessenheit geraten. In seinem Nachlass finden sich in seinen Tagebuchnotizen Gedanken zum Hintergrund:

Er habe während der Feier an seine Mutter denken müssen, der er es als Kind nie habe recht machen können. Als er erwachsen wurde, habe sie seine literarischen Bemühungen immer belächelt oder mit missgünstiger Kritik begleitet. Oder schlimmer noch: mit Schweigen, was ihn sehr verletzte. – „Was ist ein Kinderbuch anderes, als der Versuch eines Erwachsenen, sich mit der Welt der Kinder zu verständigen?“, schreibt er. Es sei ihm bei Besuchen im Elternhaus oft vorgekommen wie im dichten Straßenverkehr. Sie, die unaufhörlich redete und so ganz von sich überzeugt war. Die ihn als Kind nie Kind sein gelassen hatte, weil es nur darum gegangen war, „brav“ zu sein, und ihn als Erwachsenen zu behandeln suchte wie ein Kind. Ihr selbstgefälliger Redeschwall wirkte auf ihn wie eine Droge, die einen in Absence versetzt, ähnlich wie es übergroßer Lärm einer Straße machen kann: Man sieht dann zwar noch die Autos, Lastwagen, Motorräder, hört aber ihre Geräusche gedämpft wie durch Watte hindurch.

„Heute“, so war in seinem Tagebuch zu lesen“, „hörte ich die Stimme des Kollegenfreundes im stillen Saal mit den festlich gekleideten Gästen urplötzlich überlaut. Was ist das, dachte ich und griff mir ans Ohr.“ Dann habe es ihm gedämmert. Dies war der umgekehrte Vorgang wie beim Verkehrslärm: Was mit leisen Tönen daherkommt, erreicht dein Inneres lauter. Und gleichzeitig keimte die Hoffnung, die Chance bestünde, dass er eine Schallmauer durchbrochen hatte. Seine Mutter, die sich nie in ihn habe hineinversetzen können, sei als Kind für ihn ein Schicksal gewesen; kein Kind entkommt dem seinen. Als Erwachsener war es für ihn ein Trauma, weil es neben dem Schmerz der Erinnerung immer wieder vor Augen führte, dass auch jetzt an eine Verständigung nicht zu denken war.

Die Situation der Ehrung habe ihm vergegenwärtigt, dass es dennoch eine Chance gab. Wenn so viele kluge Menschen denken, dass seine Bücher Kinderherzen erreicht hätten, dann wäre das bei einigen vielleicht wirklich der Fall. Und das würde bedeuten, dass die Mauer zwischen den Generationen durchlässig geworden war. Ein Bann war gebrochen, gegen den er jahrelang wie in Trance angeschrieben hatte, blind, wie im Gischt einer Brandung, ohne zu wissen, ob er vorankam.

„Dieser Moment im Festsaal war für mich wie der erste Sonnenstrahl nach einem vorübergezogenen Tornado, während überall umher noch Trümmer liegen. Ich wusste, ich war nochmal davongekommen.“

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