Sonntag, 17. Dezember 2006

Der Scheideweg

Jessica saß in der Straßenbahn und wusste nicht, warum sie einen Kloß im Hals spürte. Der beiden Todesfälle des Vorjahres im Heim konnten es nicht sein, die lagen schon zu lange zurück. Trotzdem hatte es etwas mit dem Thema „Abschied“ zu tun. Aber was?

Etwas in der Ansprache, die Erika heute vor den Heiminsassen gehalten hatte, irritierte Jessica, aber ihr fiel nicht ein, was.

Jessica hatte die Banalität gestört, auf die im Grunde alles hinauslief, was die Rede enthalten hatte. Wenn der Mensch, so Erika, sich mal vergleichen würde mit dem Universum, in dem er lebt. Wie klein er doch sei und unbedeutend – wie ein Staubkorn! Darüber hatten sie hinterher im Dienstzimmer noch geredet. Da hatte es dann den komischen Sprung zu einer anderen Banalität gegeben. Daran hatte sich Jessica kurz zuvor schon bei einem Lokalpolitiker gestoßen, der den Ruf weg hatte, sich gerne selber reden zu hören. Dass man doch eigentlich zufrieden sein könne. Wenn man bedenke, mit wie wenig manche Menschen auskommen müssten, ohne zu klagen, und wir hätten doch im Grunde alles immer noch im Überfluss.

Dass zwei Binsenwahrheiten so nebeneinandergestellt werden, als hingen sie eng miteinander zusammen und ergäben eine besonders tiefschürfende Philosophie! Jessica zog schaudernd die Schultern zusammen und schluckte.

Die große Erika, an der Jessica so manches Mal hochgeschaut hatte, wenn die im Alltag so richtig loslegte! Die sogar der Trulla vom Landesverband den Schneid abgekauft hatte, und die sich selbst von einem Journalisten nicht verunsichern ließ, der komische Fragen stellte. Ja, Erika hatte sogar mal einem Vertreter des Landtages, der bei einer Besichtigung des Hauses politischen Dünnschiss abließ, mit ihrem dänischen niederländischen Akzent eine so pointierte Rückfrage gestellt, dass der Klugscheißer rot anlief und ziemlich rasch den Besuch beendete.

Hatte Erika wirklich nicht mehr zu sagen? War das, was sie da heute wie ein Credo fast feierlich verkündet hatte, tatsächlich die Quintessenz ihrer Überzeugungen? Jessica machte sich klar, dass sie, was den puren Wortsinn der Rede ihrer Chefin betraf, Satz für Satz eigentlich zustimmen konnte. Es war nichts Falsches daran. Und hatte Jessica vorhin nicht selber gedacht, es komme halt immer darauf an, womit man etwas vergleiche? Also Mensch zu Weltall: Staubkorn, okay. Aber der Mensch zu seinem Beruf, der Mensch zu einer ehrenamtlichen Aufgabe, Mensch zu Mensch – da gab es doch Bedeutungswelten, die rein gar nichts mit Staubkornhaftigkeit zu tun haben! Doch wenn sie jetzt bedachte, was Erika das letzte Jahr als Leiterin des Hauses durchgemacht hatte, dann war diese regelrecht proklamierte Zufriedenheit mit einem Lebensminimum sogar irgendwie verständlich: Erleichterung, noch mal davongekommen!

Woran also störte sich Jessica?


Die junge Frau horchte in sich hinein. War es einfach die Erschöpfung der Vorweihnachtszeit, die an ihr nagte; würde eine ordentliche Mütze voll Schlaf Abhilfe schaffen? War sie gereizt wegen eines kurzen Disputes, in der die Vorgesetzte heute wieder einmal einen Tick zu bevormundend gewesen war? Das alles konnte durchaus eine Rolle spielen, aber es war nicht der springende Punkt dessen, woran sie Anstoß nahm.

Eher war es dieses schon erwähnte Gefühl der Banalität, was den schalen Geschmack auf der Zunge erzeugte. Wir haben doch Ziele, sagte sich Jessica. Wir haben doch diesen Beruf nicht gelernt, weil wir dermaßen ergriffen von dem Gedanken der Kleinheit des Menschen und so erpicht darauf waren, „Staubkörnern“ das Essen ins Zimmer zu bringen, bei Gebrechlichkeit einen Gang auf den Balkon zu ermöglichen und bei Bettlägerigkeit täglich einmal nach der Notdurft den Hintern abzuputzen.

Genau, fiel es Jessica jetzt wieder ein, eben das hatte sie doch in dem Gespräch vorhin auch noch zu sagen versucht: „Wir haben doch Ziele! Und es kommt auch bei aller Unbedeutendheit im Vergleich zur Größe des Weltalls darauf an, wie wir unser Leben führen und was wir daraus machen.“ Jetzt erst fiel es Jessica auf: Genau an diesem Punkt hatte ihre Vorgesetzte das Thema gewechselt, war von der einen in die andere Banalität gesprungen.

Erika war letztlich der Frage nach den Zielen ausgewichen! Das einzige, was ihr dazu einfiel, war die verdeckte Klage ein wohlfeiles Lamento über die Unzufriedenheit vieler Menschen (wer war hier eigentlich unzufrieden? Es war nicht Jessica, die klagte) und der Hinweis darauf, eigentlich gehe es uns doch noch gut. Als habe Erika damit etwas abwehren wollen. Als habe sie sagen wollen: Jetzt versuch mal nicht zu viel zu erreichen, jetzt gib dich doch mal bescheiden!


Jessica merkte, wie der Kloß im Hals ins Rutschen kam, er saß jetzt nicht mehr fest. Sie richtete sich ein wenig auf und bewegte ihre Schultern, streckte sich. Sie war sich sicher: Mit der Staubkorn-Theorie wollte sie nicht gut Freund werden. Es gibt Dinge, die nicht falsch sind; richtig und hilfreich müssen sie darum noch nicht sein. Langsam begann sie zu ahnen, worin ihr Unbehagen bestand. Eigentlich waren sie bisher immer ein gutes Team gewesen, die Turbulenzen des letzten Jahres hatten sie ordentlich zusammengeschweißt. Über die gemeinsame Arbeit hinaus waren sie sogar Freundinnen, hatten Freud und Leid selbst des Familienlebens miteinander geteilt, es war ein Geben und Nehmen gewesen. Die jetzige Änderung bestand darin, dass sie sich nach unterschiedlichen Horizonten ausstreckten. Im Grunde hatte der heutige Tag erwiesen, dass sie sich an einem Scheideweg befanden und sich von jetzt an langsam voneinander entfernten. Eine Beziehung begann sich zu lösen wie die Kupplung zweier Waggons, die geöffnet worden war. Das war es, was Jessica wehtat.


Hatte Erika ihre beruflichen Ziele aufgegeben? Und warum ihre Schroffheit und Unnahbarkeit der letzten Monate? Störte sie an der jüngeren und dynamischeren Kollegin die Emotionalität, dass die mehr wollte, als im täglichen Beruf einfach „keine Fehler“ zu machen? Und wer definiert überhaupt, ob eine Entscheidung ein „Fehler“ ist? Vom Standpunkt des Trägers eines Altersheimes aus kann es schon ein „Fehler“ sein, zu lange mit einer Heimbewohnerin zu reden.

War das übrigens der Bruch zwischen den Generationen? Man sah es Erika mit ihrem tiefschwarzen Bubikopf und dem frischen Gesicht nicht auf den ersten Blick an, aber sie war mit rund fünfzehn Jahren eine gute halbe Generation älter als ihre Untergebene. Auf einmal hatte Jessica das faltige Gesicht ihres Opas vor Augen. Der hatte ihr mal gesagt: „Glaub nicht an diesen Blödsinn mit den Generationen! Wenn ein Älterer versucht, dir zu sagen, er wisse es besser, weil er älter ist, dann höre nicht auf ihn. Alle Menschen lernen voneinander. Wenn ein Alter nicht mehr bereit ist, von den Jungen zu lernen, dann ist er im günstigen Fall ein Besserwisser, im schlimmen Fall sogar ein Demagoge.“ Und er hatte hinzugefügt: „Achte übrigens nicht darauf, ob er bloß SAGT, du habest ihm nichts zu sagen. Versuch herauszufinden, was er TUT. Dann entscheide dich dafür, ihm zu vertrauen, und wenn das nicht geht, nimm dich vor ihm in acht.“

Jessica erkannte, dass es nicht an ihrem unterschiedlichen Alter lag. Und beschloss, dass nicht sie sich von ihrer Freundin abwandte, sondern diese sich von ihr. Neulich waren sie zusammen in der Oper gewesen und hatten hinterher in dieser Bar noch einen miteinander getrunken. Gegen Mitternacht machten sie sich auf den Heimweg. Die robustere Jessica wollte, wie so oft, die in der Dunkelheit etwas ängstliche Freundin bis vor die Haustür begleiten. „Nein, lass mal“, sagte Erika, küsste die Freundin auf beide Wangen und ging allein durch die Dunkelheit davon.

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